Taschen und Accessoires aus Lkw-Planen – dafür ist das Unternehmen Freitag lab.ag mit Hauptsitz in Zürich bekannt. Das Kult-Label hat rund 250 Mitarbeitende,
arbeitet mit holakratischen Methoden und seit Anfang 2019 auch mit einem neuen Gehaltsmodell. Wir sprachen mit Pascal Dulex, der für Organizational Culture & Creative Direction zuständig ist,
über den teils schmerzhaften Weg zu einem neuen Vergütungssystem.
Interview: Stefanie Hornung, Fotos: Roland Taennler
Pascal, Ihr habt Mitte 2019 ein neues Gehaltssystem bei Freitag eingeführt. Wie sieht das in groben Zügen aus?
Zum einen haben wir die Lohnstufen radikal vereinfacht. Früher hatten wir 17 Gehaltsstufen, heute sind es nur noch 4. Sie richten sich nach den Rollen, die jemand
hauptsächlich ausfüllt – wir arbeiten seit 2016 nach holakratischen Prinzipien. Außerdem sind die Bandbreiten, in denen sich die Lohnstufen bewegen, heute transparent und alle Mitarbeiter
bekommen für das Jahr 2019 erstmals eine variable, EBIT-basierte Erfolgsbeteiligung.
Was war für Euch der Auslöser, die Gehaltsstruktur zu verändern?
Uns war schon lange bewusst, dass wir das Vergütungssystem ändern müssen. Wir sind organisch gewachsen und ebenso war es mit unserem Gehaltssystem: Irgendwann hatten wir enorm viele Gehaltsstufen
– angefangen von Praktikanten über Juniors und Specialists bis hin zu Seniors und Team Leader. Jeder hat für sich selbst verhandelt und es war nicht immer klar, nach welchem Prinzip
Lohnerhöhungen erfolgen. Letztlich hing die Einschätzung sehr stark von den jeweiligen Chefs ab. Manchmal waren Mitarbeiter schon beim Einstieg überproportional hoch dotiert und verdienten in
Relation zum Gesamtgefüge deutlich zu viel.
Als wir vor etwa vier Jahren angefangen haben, die Organisation komplett zu verändern, kam vermehrt der Wunsch nach Transparenz auf. Wir haben deshalb eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe gebildet, die sich der Frage der Lohntransparenz annehmen sollte - nach kürzester Zeit war sie heillos zerstritten. Deshalb haben wir pragmatisch angefangen und erst einmal das Gesamtgefüge angeglichen: Die Gehälter derjenigen, die zu wenig verdienten, haben wir kontinuierlich angehoben.
Inwiefern habt Ihre Eure Organisation oder die Form der Zusammenarbeit in der Zeit verändert?
Wir haben unsere Organisation zunächst nach dem Vorbild einer Stadt aufgestellt, die wir einfach „Beta“ nannten. Die Idee dahinter: Wir wollten trotz einer gewissen Größe, die unser Unternehmen
mit 150 Mitarbeitern bereits hatte, genauso produktiv und agil bleiben wie kleine Organisationen. Wir schafften die Geschäftsführung ab und führten dafür selbstorganisierte Zellen ein und
Führungskräfte, die sich als Coaches verstehen sollten. Die Stadt war ein schönes Bild, aber wir sind grandios daran gescheitert.
Warum, was war das Problem?
Die anfängliche Energie für diese Transformation verpuffte schnell, zur Hauptsache wohl, weil wir als ehemalige Geschäftsleitung nicht geschlossen hinter der Weiterentwicklung standen. Außerdem
war unklar, nach welchen Regeln wir uns überhaupt weiterentwickeln wollten. Und zentrale Fragen blieben unbeantwortet, zum Beispiel: Wie sieht in unserer Organisation eine Karriere aus? Jede
Person versucht sich ja irgendwo einzuordnen, will weiterkommen, einen besser klingenden Titel. Irgendwann stießen wir auf Holakratie und haben uns schließlich für diese neue Organisationsform
entschieden. Von der klassischen Karriereleiter haben wir uns dadurch komplett befreit, es gibt keine hierarchischen Bezeichnungen für Positionen mehr. Meetings sind nun dank klarer Regeln viel
effizienter. Trotzdem war die Beta-Organisation rückblickend als Entwicklungsschritt absolut wertvoll. Denn der direkte Shift von einer traditionellen Organisation zur Holakratie wäre viel größer
und anspruchsvoller gewesen.
Wie spiegelt sich das nun im Gehalt wider – wofür wirst Du beispielsweise bezahlt?
Ich habe ein breitgefächertes Potpourri an Aufgaben, aber im Kern dreht sich alles um etwa vier Rollen. Ich bin „Lead-Link“ des Themen-Kreises HR und Organisationsentwicklung – das ist eine
organisierende Funktion. Außerdem bin ich als eine Art Organisationsentwickler unterwegs. Als Cultural Coach kümmere ich mich global um Wertevermittlung und in der Rolle Creative Direction
verantworte ich im General Company Circle die Markenidentität des Unternehmens. Viele zusätzliche Rollen kommen immer mal wieder hoch, ruhen dann aber auch.
Jede Rolle haben wir einer der 4 Gehaltsstufen zugeordnet. Ausschlaggebend für das Gehalt ist, in welcher Lohnstufe die Mehrheit der Rollen einer Person angesiedelt sind. Die Lohnstufen
unterscheiden sich durch die Komplexität der zu bearbeitenden Themen, durch die Verantwortungsspanne und die Frage, ob es sich eher um ausführende oder strategische Tätigkeiten handelt.
Wichtige Faktoren sind zudem Erfahrung und natürlich das soziale Verhalten. Prinzipiell soll in der gleichen Rolle das Gehalt vergleichbar sein. Wenn jemand eine besondere Erfahrung mitbringt,
als Leader heraussticht und sein Wissen an andere weitergibt, kann sich das auch auf den Lohn auswirken. Dafür haben wir einen Katalog von Kompetenzen definiert, die von der verantwortlichen
Rolle bewertet werden.
Wer bestimmt denn, welche Rolle in welcher Gehaltsstufe ist und welche Kompetenzen jemand dafür mitbringt?
Es gibt zwei Rollen, die das entscheiden. Zum einen die Lead-Links der verschiedenen Kreise: Diese Rolle ist dafür verantwortlich, eine Grundstruktur für den jeweiligen Kreis zu definieren, damit
dieser seinen Zweck erfüllen kann. Sie muss passende Leute für die Rollen des Kreises finden und letztlich auch beurteilen, wie gut jemand seine Rolle ausfüllt – das nennen wir „Role fit“. Die
zweite wichtige Rolle im Einstufungsprozess heißt „Moneypenny“: Das ist die für unser Gehaltssystem verantwortliche HR-Rolle, die als Sparringspartner für die Lead-Links der Kreise da ist, um die
Rollen korrekt in die vier Gehaltsstufen einzuordnen.
Das hört sich nach einem eher klassischen top-down Prozess an…
Wir befinden uns immer noch auf dem Weg von einer klassischen Organisation hin zu einem Modell der Selbstorganisation. Wir möchten nicht da enden, wo viele Organisationen heute stehen: Dass eine
Führungskraft einmal im Jahr beurteilt, wie jemand in seinem Job performt hat, ohne wirklich Ahnung davon zu haben. Deshalb haben wir zum Beispiel den „Circle Review“ eingeführt: Alle Mitglieder
eines Kreises setzen sich zusammen und beurteilen sich gegenseitig.
Wie läuft das genau ab?
Zuerst schreibt jede Person pro eigene Rolle im entsprechenden Kreis ein Post-it und vermerkt, wie wichtig sie die Rolle gerade einschätzt und mit welcher Energie sie diese ausfüllt – auf einer
Skala von 1 bis 3. Wenn jemand sich beispielsweise um Social Media kümmert, könnte das die höchste Wichtigkeit mit 3 haben, aber die Energie ist vielleicht nur bei 1, weil die Person viele andere
Dinge zu tun hat. Das ist eine Orientierung für die anderen, wie Kollegen ihre Arbeitskraft gerade einteilen.
Dann startet der sogenannte „Feedback-Markt“, alle gehen rum und geben auf Post-its Feedback zu den Rollen der anderen – das soll konstruktiv und ehrlich sein. In einer offenen Runde greift dann jede Person ihr Feedback exemplarisch auf und reflektiert, was es bei ihr auslöst. Dabei sind auch Nachfragen oder kurze Diskussionen möglich. Es geht darum, dass Dinge, auch kontroverse, ausgesprochen werden, die im Alltag häufig untergehen. Es folgt eine Runde, in der jede Person mindestens zwei wertschätzende Kommentare aus dem Kreis erhält. Im abschließenden Check-out reflektieren alle offen, wie die Runde gelaufen ist. Diesen Prozess machen wir jetzt im zweiten Jahr. Der Circle Review ist für die Kreise ein wichtiges Instrument geworden, um sich auszutauschen und weiterzuentwickeln. Und für die Lead-Links bietet er eine Grundlage, um den individuellen Role fit der Kreismitglieder zu beurteilen.
Welche Dynamik löst das unter Kollegen aus? Beeinflusst das nicht die Ehrlichkeit des Feedbacks, wenn es letztlich für die Vergütung entscheidend ist?
Die Gefahr sehe ich bei uns nicht. Zum einen ist das Team-Feedback nur in einem geringen Maß für das Gehalt entscheidend. Zum anderen ist unsere Feedbackkultur durch den Holakratie-Modus schon
sehr fortgeschritten. Wir sind es gewohnt, Spannung auf die Agenda zu bringen und Zwischenmenschliches offen anzusprechen. Wir erleben das sehr positiv, wenn jemand sagt: „Ihr zwei habt ein
Problem. Das ist anstrengend und so kann ich mit Euch nicht arbeiten. Bitte sprecht euch aus.“ Außerdem arbeitet hier niemand, um ganz viel Geld zu verdienen. Viele Leute kommen zu uns, weil man
hier mitgestalten kann und inspirierende Kollegen hat. Das klingt vielleicht ein bisschen pathetisch, aber mir geht es jedenfalls so: Ich arbeite seit zehn Jahre hier und will nicht weg.
Was macht die Freitag-Kultur aus Deiner Sicht aus?
Wir sind getrieben vom Nachhaltigkeitsdenken, auch wenn wir das nicht als Begrifflichkeit benutzen. Wir überlegen uns nicht nur, wie wir überzeugende Taschen, Kleider und Services gestalten,
sondern auch welche gesellschaftliche und soziale Wirkung wir als Taschenhersteller haben können. Das beinhaltet nicht nur, mit materiellen Ressourcen sinnvoll umzugehen, sondern auch, wie wir
zusammenarbeiten möchten. Vertrauen, Wertschätzung, Augenhöhe und Spaß bei der Arbeit – das alles prägt unsere Kultur. Durch Holakratie kommen diese Werte noch stärker zum Ausdruck. Und sie
vermitteln Sicherheit. Die Leute haben dadurch heute mehr Lust auf Veränderung.
Inwiefern gilt das auch für Deine Kollegen in der Produktion?
Natürlich unterscheiden sich je nach Mitarbeiter die Werte, die im Vordergrund stehen. Unser Dienstältester in der Produktion ist beispielsweise schon 20 Jahre hier. Er kam damals aus dem Balkan
und das hier war sein erster fester Job. Heute ist er unser Silberrücken, der seine Erfahrung gerne weitergibt. Er ist vielleicht nicht so sehr vom Nachhaltigkeitsdenken geprägt wie andere, aber
er hat im sozialen Gefüge der Firma eine Heimat gefunden. So hat jeder seine eigene Geschichte. Das ist nicht wie im Bilderbuch – alle sind happy und wollen die Welt retten – das wäre auch
gelogen. Aber es kommt dem schon nahe.
Wie wichtig ist es für Euch, dass die Löhne marktgerecht sind?
Das finde ich schwierig, denn der Markt spiegelt nicht unbedingt das wider, was wir erreichen möchten. In der Kommunikation und Vertrieb, im Lohnmittelfeld – da kann man sich daran vielleicht
orientieren. Aber wir haben viele Jobs, die es am Markt sonst gar nicht gibt, sowohl in der Produktion als auch auf Strategieebene. Und was gerade in den oberen Etagen teilweise am Markt bezahlt
wird, das ist doch Wahnsinn. Diese ganzen Millionensaläre, das kann niemand wert sein. Das zeigt, wie kaputt das Lohnsystem insgesamt ist. Bei uns ist das höchste Gehalt etwa viermal so hoch wie
das niedrigste.
Was sind die nächsten Schritte für Euer Vergütungssystem auf dem Weg zur selbstgesteuerten Organisation?
Auf dem Weg müssen wir noch Vieles lernen und verlernen. Während ehemalige Chefs Kontrolle abgeben, machen Mitarbeiter die Erfahrung, dass sie nicht mehr alles den Führungskräften überlassen
können. Dass wir alle am Unternehmenserfolg beteiligen, war deshalb für uns ein logischer Schritt, den wir sehr gefeiert haben. Wir haben eine Variable eingeführt, die sich an der Profitabilität
orientiert. Wenn der EBIT einen bestimmten Wert übersteigt, werden 20 Prozent an alle ausgeschüttet.
Inwiefern gilt das für alle Mitarbeiter gleich – auch für den Verkauf?
Die Ausschüttung ist zu 70 Prozent vom Grundgehalt abhängig, zu 20 Prozent für alle gleich und für 10 Prozent bestimmen alle gemeinsam, wofür wir die einsetzen oder spenden wollen. Das gilt
genauso für den Verkauf, da gibt es keine Provision. Diese Praxis hat mir noch nie eingeleuchtet. Jemand produziert die Ware, andere kommunizieren sie und wieder andere verkaufen sie. Warum
sollte man nur im Verkauf von einer Lohnvariable profitieren? Alles andere davor ist doch genauso wichtig.
Wie fair ist also Euer Vergütungssystem heute aus Deiner Sicht?
Wir haben transparente Gehaltsstufen und im Grunde kann man sich in etwa ausrechnen, wie viel jemand verdient. Auch das Verfahren ist transparent. Und eben hat uns eine unabhängige
Zertifizierungsstelle (HR Conscience, Kooperationspartner des Eidgenössischen Büros für Gleichstellung von Frau und Mann (EBG), Anmerkung der Redaktion) bestätigt, dass wir gleichen Lohn für
gleichwertige Arbeit bezahlen. Unser Vergütungssystem ist also so fair wie nie. Aber das ist noch nicht das Ende.
Das Gespräch führte Stefanie Hornung.
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Volker Schweisfurth (Freitag, 06 März 2020 09:02)
In jeder Hinsicht spannend- vom Entwicklungsprozess bis zur Idee, Gehälter aus diversen Rollenvergütungen zusammenzubauen. Alles mit Change agents, change catalysts (wenn es welche gab) aus der eigenen Firma. Solche Innovation schaffen nur kleinere Firmen, die um innovative Produkte aufgestellt sind. Hat ein Multiplikator wie “Brand eins” dies mal in die breitere Öffentlichkeit getragen? Ich ziehe den Hut!